Hinhören (2/3)

Kann man „hinhören“ erlernen?
Ich sage: Ja! Woher ich das weiß? Aus eigener Erfahrung. Genau so, wie wir uns ausgezeichnete Kommunikations-Skills aneignen können, können wir uns auch „Hinhörer-Skills“ erarbeiten.
Hinhören beginnt mit Schweigen lernen.
Ich war als Kind recht schweigsam, doch gleichzeitig sehr neugierig. Deswegen hörte ich mir alles an, was mir die Erwachsenen erzählten und obwohl ich mich nicht oft dazu äusserte, machte ich mir doch Gedanken über das Gehörte. Ich beobachtete die Erwachsenen, wie sie sich auch gegenseitig gute Ratschläge gaben und in mir festigte sich die Vorstellung, dass Erwachsene das so tun müssten. Ich wurde irgendwann erwachsen und der Meinung, ich hätte schon genug im Leben gelernt. Also verhielt ich mich genau so, wie ich es als Kind gelernt hatte. Wann immer jemand mit einem Problem zu mir kam, hatte ich gut gemeinte Ratschläge parat, die ich den anderen auch bereitwillig weitergab.
Als ich dann merkte, dass meine guten Ratschläge nicht immer willkommen waren und manche Menschen sich über meine besserwisserische Art (wie sie es oft nannten) ärgerten, fühlte ich mich schlecht. Da ich von allen Menschen gemocht werden wollte, habe ich mir erst einmal vorgenommen, nicht überall meinen Senf dazuzugeben.
Am Anfang fiel es mir nicht leicht und ich musste mir oft auf die Zunge beißen. Ich ertappte mich immer mal wieder dabei, wie ich meine Meinung kundtat. Ich habe mich dann mitten im Satz unterbrochen, um das, was ich sagen wollte, runterzuschlucken. Das einzige, was mir dabei half, war tief durchzuatmen. „Einach mal die Klappe halten“ – das wurde mein Mantra.
Um meine Gedanken ruhig zu stellen zwang ich mich auf die Person mir gegenüber zu achten. Erst mal auf die Mimik und auf die Gestik. Nicht als ob ich dabei besser zugehört hätte. Doch zumindest half es mir still zu bleiben.
Es gab Gelegenheiten, bei denen ich innerlich den Kopf schüttelte über das Gebaren des mir Gegenüber, manchmal fand ich ihre übertriebene Art lustig und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Doch meistens fragte ich mich nur: „Echt jetzt?“
Ich war ein sehr visueller Mensch, was bedeutet, dass alles was ich hörte sich als ein Film in meinem Kopf abgespielt hat. Automatisch sprang mein Kopfkino an. Ich stellte fest, dass mein Film die Vorfälle, die mir die Menschen erzählten, oft viel harmloser erscheinen ließ als es die Person mir gegenüber versuchte sie mir erscheinen zu lassen, ausdrucksstark unterstütz mit vielen Gesten. Viele machten, meiner Meinung nach, einen Elefanten aus einer Mücke. Das fand ich irritierend. Warum übertreiben so viele Menschen? Übertreibe ich manchmal auch so?
Also fing ich an, mich selbst beim Reden zu beobachten. Wie erzähle ich? Wie verhalte ich mich, wenn ich sauer bin und Luft rauslasse oder wenn ich etwas witziges erzähle? Wie ist meine Körperhaltung, wenn ich traurig bin und wie meine Gestik, wenn ich vor Glück die Welt umarmen könnte?
Mit Entsetzen stellte ich fest, ich übertreibe auch! Ja, ja… So ist das mit dem Splitter und mit dem Balken…
Mir wurde bewusst, dass ich vor allem dann zur Übertreibung neigte, wenn mich etwas lange Zeit belastet hat bevor ich darüber reden konnte. Wenn sich etwas angesammelt hat also. Oder wenn ich jemanden ganz besonders hartnäckig von etwas überzeugen wollte. Beispielsweise davon, dass ich recht hatte.
So also muss es den anderen Menschen auch gehen, dachte ich. Aber ob das wirklich so ist, wusste ich nicht sicher.
Ab da lehnte ich mich bei Gesprächen innerlich zurück und achtete darauf, welche Intension die Menschen beim Erzählen hatten. Abgesehen von wenigen Menschen, die von vorne herein sehr temperamentvoll sind, handelten die anderen aus den gleichen Gründen wie ich überaus emotional. Sobald ich das verstanden habe, störten mich ausladende Bewegungen oder kämpferische Gesichtsausdrücke nicht länger. Von da an fiel es mir zunehmend leichter mehr auf das zu achten, was die Menschen versuchten mir mitzuteilen. Ich fing an Inhalt und Choreographie im Zusammenhang zu betrachten, um es mal salopp zu sagen. Ich entwickelte mich immer mehr zu einem Zuschauer von außen. Und dadurch auch zu einem besseren Hinhörer.
Das hatte eine angenehme Nebenerscheinung für mich. Ich habe mich nicht mehr mitten im Geschehen gesehen und obwohl mich die Geschichten der anderen berührt hatten, fühlte ich mich nicht direkt davon betroffen. Und da ich mich nicht betroffen fühlte, hatte ich auch nicht mehr das Bedürfnis, mich dazu zu äussern. Ich wurde zum „Schweiger“. Ich hörte schließlich ganz auf, mich zu äußern. Ich beschränkte meine Reaktionen auf ein Nicken oder auf ein Lächeln. Ich hielt mich für angemessen zurückhaltend.
Während manche Menschen diese Veränderung dankbar zur Kenntnis nahmen, waren andere wie vor den Kopf gestoßen. Sie empfanden mich als teilnahmslos oder desinteressiert. Manche hatten den Eindruck, ich wäre abwesend, oder gar arrogant. Ich habe gar nicht bedacht, wie meine Haltung wohl auf meine Mitmenschen wirken könnte. Ich war gelinde gesagt schockiert, denn ich hielt mich nicht für überheblich.
Puh, ist das schwer, dachte ich. Wie soll ich denn beteiligt wirken und doch nicht zu viel sagen? Doch vor allem, was soll ich denn sagen? Was will der andere Mensch von mir hören? Und will ich das auch sagen, selbst wenn ich anderer Meinung bin? Eigentlich nicht. Nicht nur eigentlich. Nicht.
Also musste eine neue Strategie her.

Cynthia Chyba
Authorin
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